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Werkstoff-Alternativen zu Polyamid 6.6

Warum Verarbeiter über einen Wechsel von Polyamid 6.6 zu den Werkstoff-Alternativen Polyamid 6 und PBT nachdenken sollten.
Viele Hersteller von Kunststoffbauteilen aus Polyamid 6.6 suchen nach günstigeren und vor allem zuverlässig verfügbaren Werkstoff-Alternativen.

Warum Verarbeiter über einen Wechsel von Polyamid 6.6 zu den Werkstoff-Alternativen Polyamid 6 und PBT nachdenken sollten.

Die K-ZEITUNG sprach mit Tim Albert, Head of Sales Industrials EMEA, und Martin Burg, Global Application Development, beide vom Geschäftsbereich High Performance Materials (HPM) bei Lanxess, über die Möglichkeiten und Grenzen von Werkstoff-Alternativen zu Polyamid 6.6 (PA66).

In den vergangenen drei Jahren sind die Preise für Polyamid 6.6 (PA66) immer weiter gestiegen, derzeit explodieren sie geradezu, was einen Wechsel zu Werkstoff-Alternativen nahelegt. Unabhängig von der aktuellen Situation sollte vor allem die mittel- und langfristige Verfügbarkeit des Werkstoffs für einen Wechsel sprechen.

Die Engpässe, die wir derzeit bei fast allen Kunststoffen erleben, sind für PA66 nicht neu. Die Verarbeiter klagen immer wieder über Schwierigkeiten bei der Beschaffung von PA66. Woran liegt das?

Tim Albert: Adiponitril, kurz ADN, ein notwendiges Vorprodukt zur Herstellung von PA66, ist das wesentliche Nadelöhr. Es gibt weltweit nur vier große und zwei kleinere Produktionsstätten für ADN und davon steht lediglich eine einzige Anlage in Europa.

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Was bedeutet das konkret?

Tim Albert: Die Herstellung von PA66 in Europa hängt an einer einzigen Vorproduktanlage sowie an Importen insbesondere aus den USA. Force Majeure-Ereignisse oder andere Störungen in Europa wirken sich somit schnell und unmittelbar auf die Versorgungskette aus.

Wie häufig kommen denn solche Störungen vor?

Tim Albert: Allein in den letzten fünf Jahren haben wir weltweit ca. 17 Force Majeure-Meldungen und sieben weitere Vorkommnisse gezählt, die zu Produktionseinschränkungen führten. Bei nur sechs Produktionsstätten weltweit zeigt dies, dass die Verfügbarkeit von ADN und in der Folge auch die von PA66 strukturell belastet ist und aus meiner Sicht für die nächsten zwei bis drei Jahre auch bleiben wird, da insbesondere in Europa keine weiteren neuen Anlagen in dieser Kette angekündigt sind.

Wirkt sich dies auf die Preisentwicklung aus?

Tim Albert, Head of Sales Industrials EMEA, HPM Lanxess: „Die Verfügbarkeit von ADN und in der Folge auch die von PA66 ist strukturell belastet.“

Tim Albert: In den vergangenen drei Jahren kam es bei PA66 aufgrund der Verknappung des Rohstoffs ADN weltweit immer wieder zu enormen Verteuerungen. Dies veranlasst die Hersteller von technischen Kunststoffbauteilen, nach günstigeren und vor allem besser verfügbaren Alternativen zu suchen. Je nach Anwendung können PA6 oder PBT Ersatzwerkstoffe sein.

Die Preisschere zwischen Polyamid 6.6 und Polyamid 6 vergrößert sich

Die Preise für diese wie auch andere Kunststofftypen steigen derzeit ebenfalls rasant.

Tim Albert: Die aktuellen Turbulenzen am Markt, von denen sehr viele Rohstoffe betroffen sind, sind bedingt durch die Folgen der globalen Covid 19-Pandemie – es handelt sich dabei nicht um strukturelle Engpässe. Anders bei PA66: Schauen wir auf die langfristige Entwicklung, sehen wir, dass sich der Preisabstand zwischen PA66 und PA6 – von kurzfristigen Marktschwankungen abgesehen – deutlich vergrößert hat.

Die Verarbeiter sind also gut beraten, sich auch langfristig über Alterativen zu PA66 Gedanken zu machen?

Tim Albert: Die sich weiter öffnende Preisschere ist ein Aspekt, doch eine zuverlässige Verfügbarkeit ist mindestens ebenso wichtig. So wird Caprolactam als Vorprodukt für PA6 an 69 Standorten weltweit produziert, die Versorgung hängt also nicht nur am Tropf weniger Standorte. Bei PBT ist es ähnlich. Es lohnt sich also, auch bei Produkten mit komplexen Freigabeverfahren einen Werkstoffwechsel in Betracht zu ziehen.

Fast 40 Prozent des produzierten PA66 werden in der Automobilindustrie zu technisch anspruchsvollen Bauteilen verarbeitet. Lässt sich PA66, das sich u.a. durch einen höheren E-Modul, geringere Wasseraufnahme und gute Hydrolyse-Beständigkeit auszeichnet, einfach so ersetzen?

Martin Burg: Moderne PA6-Compounds, die wie unsere Durethan BKV P-Typen speziell für den Ersatz von PA66 entwickelt wurden, kommen den Eigenschaften von PA66-basierten Compounds schon sehr nahe, in manchen Bereichen sind sie sogar überlegen.
Zudem lassen sie sich besser verarbeiten und die Bauteile haben schönere Oberflächen. Und in vielen Anwendungen, wo PA66 als etablierter Werkstoff eingesetzt wird, werden dessen spezifische Vorteile oft gar nicht benötigt. Lanxess hat seit 2018 bereits in über 100 Projekten den Wechsel von PA66 zu PA6 erfolgreich begleitet.

In den meisten Fällen findet sich eine Werkstoff-Alternative

Dennoch hört man oft, die höhere Wasseraufnahme bei PA6, die den Kunststoff aufquellen lässt, sowie die geringere Hitzestabilität stellen ein Hindernis für den Werkstoffwechsel dar.

Martin Burg: Wenn man sich die jeweiligen Anwendungen genauer anschaut, ist oftmals ein Wechsel möglich. So ist die Wasseraufnahme bei den meisten Einsatzbedingungen bei PA6 nur wenig größer als bei PA66, der Unterschied wird erst bei Umgebungen mit deutlich erhöhter Feuchtigkeit wirklich relevant.
Außerdem lässt sich mit einer geringfügigen Steigerung des Glasfaseranteils der Unterschied oftmals auf ein Minimum reduzieren. Und bei Schlag- und Zugfestigkeit ist ein PA6 mit 35 Prozent Glasfasern beispielsweise einem PA66 mit 30 Prozent Glasfasern sogar überlegen.

Lässt sich denn in bestehenden Prozessen einfach so der Werkstoff wechseln? Bei der Abkühlung schrumpfen die Werkstoffe unterschiedlich stark, die Maßhaltigkeit der Bauteile ist aber oft entscheidend.

Martin Burg, Global Application Development, HPM Lanxess: „Wenn man sich die jeweiligen PA66-Anwendungen genauer anschaut, ist oftmals ein Wechsel auf PA6 oder PBT möglich.“

Martin Burg: Auch hier kommt es auf die konkrete Anwendung und die Art des bislang verwendeten PA66 an. Die Schrumpfung kann über die Prozessparameter beeinflusst werden. So lässt sich der Unterschied der Maßhaltigkeit zwischen dem neu verwendeten PA6 und dem bislang eingesetzten PA66 reduzieren.
Auch wird mit steigendem Füllgrad von Zusatzstoffen der Unterschied in der Schrumpfung kleiner. Ein hochgefülltes PA66 lässt sich daher leichter durch ein entsprechendes PA6 ersetzen.
Erwähnen möchte ich noch die Möglichkeit, dass Befestigungspunkte, bei denen eine hohe Maßhaltigkeit besonders wichtig ist, durch Werkzeugeinsätze angepasst werden können.
Bei einer Neuentwicklung von Bauteilen stellen sich diese Überlegungen erst gar nicht, da der ganze Prozess inklusive der für die Verarbeitung einzusetzenden Werkzeuge auf den neuen Werkstoff ausgelegt wird.

Das hört sich so an, als ob in sehr vielen Fällen ein Werkstoffwechsel möglich ist.

Martin Burg: In den meisten Fällen können PA6 oder – vor allem in E&E-Anwendungen – PBT ein PA66 ersetzten. Lediglich bei Anwendungen mit Spitzentemperaturen über 200 °C oder in Verbindung mit Glykol-Wasser über 120°C geht dies bislang nicht. Aber auch hier sind unsere Forscher bereits an der Arbeit, um den Kunden in Zukunft Alternativen auf Basis von PA6 anbieten zu können.

Die Fragen stelle Matthias Gutbrod

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