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Medizintechnik 20. Mai 2022

Smarter Verband gegen Entzündungen

Forschende der EMPA arbeiten an einem smarten Verband aus Polymerfasern, der bei Entzündungen keimtötende Medikamente freisetzt.
Empa-Forscher Fei Pan arbeitet an einer Membran aus Nanofasern, die Medikamente nur dann abgibt, wenn sich das Material erwärmt. Eine derartige Membran könnte etwa in einem Verband aktiv werden, sobald sich eine Wunde entzündet.
Empa-Forscher Fei Pan arbeitet an einer Membran aus Nanofasern, die Medikamente nur dann abgibt, wenn sich das Material erwärmt. Eine derartige Membran könnte etwa in einem Verband aktiv werden, sobald sich eine Wunde entzündet.

Forschende der EMPA arbeiten an einem smarten Verband aus Polymerfasern, der bei Entzündungen keimtötende Medikamente freisetzt.

Ob eine Wunde unter dem Verband problemlos verheilt oder Bakterien in das verletzte Gewebe eindringen und eine Entzündung entfachen, lässt sich von außen nicht erkennen. Sicherheitshalber werden also desinfizierende Salben oder Antibiotika auf der Wunde verteilt, bevor ein Verband angelegt wird. Diese vorbeugenden Maßnahmen sind aber nicht in jedem Fall notwendig. So werden Medikamente verschwendet und Wunden „übertherapiert“.

Heute werden Wunden vor dem Anlegen des Verbands meist vorbeugend mit desinfizierenden Salben und Antibiotika behandelt und damit oft „übertherapiert“.
Heute werden Wunden vor dem Anlegen des Verbands meist vorbeugend mit desinfizierenden Salben und Antibiotika behandelt und damit oft „übertherapiert“.

Schlimmer noch: Der verschwenderische Umgang mit Antibiotika fördert die Entstehung von multiresistenten Keimen, die ein immenses Problem der globalen Gesundheitsversorgung darstellen. Empa-Forschende der beiden Empa-Labore „Biointerfaces“ und „Biomimetic Membranes and Textiles“ in St. Gallen wollen dies ändern. Sie entwickeln einen Verband, der selbstständig nur dann antibakterielle Medikamente verabreicht, wenn sie auch wirklich benötigt werden.

Smarter Verband behandelt Wunden präzise und im richtigen Moment

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Die Idee des interdisziplinären Teams um Qun Ren und Fei Pan: Der Verband sollte mit Medikamenten „beladen“ sein und zudem auf Umweltreize reagieren. „Auf diese Weise könnten Wunden präzise und im richtigen Moment behandelt werden“, erklärt Fei Pan. Als Umweltreiz suchte sich das Team einen bestens bekannten Effekt aus: den Temperaturanstieg in einer infizierten, entzündeten Wunde.

Hautverträglicher Polymer-Verbundstoff aus PMMA und Eudragit

Nun hieß es für das Team, ein Material zu designen, das auf diesen Temperaturanstieg passend reagieren würde. Hierzu wurde ein hautverträglicher Polymer-Verbundstoff aus mehreren Komponenten entwickelt: Acrylglas (Polymethylmethacrylat, kurz PMMA), das beispielsweise für Brillengläser und in der Textilindustrie verwendet wird, und Eudragit, ein bioverträgliches Polymergemisch, mit dem beispielsweise Tabletten überzogen werden.

Mittels Elektrospinnen ließ sich das Kunststoffgemisch zu einer feinen Membran aus Nanofasern verarbeiten. Als medizinisch wirksame Komponente konnte schließlich Octenidin in die Nanofasern eingekapselt werden. Octenidin ist ein Desinfektionsmittel, das schnell gegen Bakterien, Pilze und manche Viren wirkt. In der Medizin kann es auf der Haut, auf Schleimhäuten und zur Wunddesinfektion verwendet werden.

Smarter Verband setzt bei Entzündung Desinfektionsmittel frei

Anders als herkömmliche Pflaster gibt der neue „smarte Verband“ nur bei einer Entzündung ein antibakterielles Medikament ab.
Anders als herkömmliche Pflaster gibt der neue „smarte Verband“ nur bei einer Entzündung ein antibakterielles Medikament ab.

„Damit die Membran als „smarter Verband“ wirkt und das Desinfektionsmittel auch tatsächlich freisetzt, wenn sich die Wunde aufgrund einer Infektion erwärmt, haben wir das Polymergemisch aus PMMA und Eudragit so zusammengestellt, dass wir die Glasübergangstemperatur passend einstellen konnten“, sagt Empa-Forscher Fei Pan.

Dabei handelt es sich um die Temperatur, bei der ein Kunststoff von einer festen Konsistenz in einen gummig-zähen Zustand wechselt. Bildlich beschrieben wird der Effekt gerne in umgekehrter Weise: Legt man einen Gummihandschuh in flüssigen Stickstoff bei minus 196 Grad, ändert er seine Konsistenz und wird so hart, dass man ihn mit einem Schlag wie Glas zersplittern lassen kann.

Glasübergangstemperatur bei 37°C

Die gewünschte Glasübergangstemperatur der Polymermembran hingegen lag im Bereich von 37 Grad. Wenn eine Entzündung vorliegt und sich die Haut über ihre normale Temperatur von 32 bis 34 Grad hinaus erwärmt, wechselt das Polymer von seinem festen in einen weicheren Zustand. In Laborexperimenten konnte das Team beobachten, wie das Desinfektionsmittel bei 37 Grad aus dem Polymer freigesetzt wird, nicht jedoch bei 32 Grad.

Entzündungshemmender Prozess reversibel und wiederholbar

Ein weiterer Vorteil: Der Prozess ist reversibel und kann bis zu fünf Mal wiederholt werden, da sich der Vorgang bei Abkühlung immer wieder von selbst „abschaltet“. Nach diesen erfolgreichen Tests möchten die Empa-Forschenden nun das Feintuning des Effekts angehen. Statt eines Temperaturbereichs von vier bis fünf Grad soll der smarte Verband sich dann bereits bei kleineren Temperaturunterschieden an- und abschalten.

Um die Wirksamkeit der Nanofaser-Membranen gegenüber Wundkeimen zu untersuchen, stehen derzeit weitere Laborexperimente an. Teamleiterin Qun Ren befasst sich seit Langem mit Keimen, die sich in den Grenzschichten zwischen Oberflächen und der Umwelt einnisten, wie etwa auf einer Hautwunde. „In diesem biologischen Setting, einer Art Niemandsland zwischen Körper und Verbandsmaterial, finden Bakterien eine perfekte biologische Nische“, so die Empa-Forscherin. Infektionserreger wie Staphylokokken oder Pseudomonas-Bakterien können hier schwere Wundheilungsstörungen verursachen.

Bakterienzahl um Faktor 1.000 reduziert

Genau diese Wundkeime ließ das Team in der Petrischale Bekanntschaft mit dem smarten Verband machen. Und tatsächlich: Die Zahl der Bakterien verringerte sich um den Faktor 1.000, wenn Octenidin aus dem smarten Verband freigesetzt wurde.

„Mit Octenidin ist uns ein „Proof of Principle“ für die kontrollierte Medikamentenfreisetzung durch einen externen Reiz gelungen“, so Qun Ren. Künftig lasse sich die Technologie auch für andere Arten von Medikamenten einsetzen, wodurch die Effizienz und Präzision bei deren Dosierung gesteigert werden könnte.

Der smarte Verband

In interdisziplinären Teams arbeiten Empa-Forschende an verschiedenen Ansätzen zur Verbesserung der medizinischen Wundbehandlung. Beispielsweise sollen flüssige Sensoren durch Farbumschlag an der Aussenseite des Verbands sichtbar machen, wenn eine Wunde schlecht verheilt. Als Biomarker dienen hierbei kritische Glukose- und pH-Werte.
Damit bakterielle Infektionen direkt in der Wunde bekämpft werden können, arbeiten die Forschenden zudem an einem Polymerschaum, der mit entzündungshemmenden Substanzen beladen ist und an einer hautfreundlichen Membran aus Pflanzenmaterial. Die Cellulose-Membran ist mit antimikrobiellen Eiweissbausteinen ausgestattet und tötet in Labortests Bakterien äusserst effizient ab.
Zudem kann die Digitalisierung bei der Wundversorgung sparsamere und effizientere Dosierungen erreichen: Empa-Forschende entwickeln digitale Zwillinge der Haut, die die Steuerung und Vorhersage des Therapieverlaufs mittels Modellierung in Echtzeit erlauben.

Forschende der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa haben schon mehrfach mit neuen medizintechnischen Lösungen für Aufsehen gesorgt, so auch mit einer vollständig transparenten Mund-Nasen-Schutzmaske, bei der man trotz Maske das Gesicht der jeweiligen Person sehen kann.

Andrea Six/gk

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