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World of Plastics 1. Juni 2023

Kunststoff – große Kunst

Für die bildende Kunst ist Kunststoff eine groß Bereicherung, zeigt die neue Ausstellung „Plastic World“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt.

L’arbre à palabres (Palaverbaum) heißt dieses Werk von Pascale Marthine Tayou, das in der Schirn zu sehen ist. Die Krone des Baums besteht aus Kunststoffbehältern. Tayou macht damit plakativ auf den massenhaften Gebrauch des günstigen Materials Kunststoff aufmerksam
L’arbre à palabres (Palaverbaum) heißt dieses Werk von Pascale Marthine Tayou, das in der Schirn zu sehen ist. Die Krone des Baums besteht aus Kunststoffbehältern. Tayou macht damit plakativ auf den massenhaften Gebrauch des günstigen Materials Kunststoff aufmerksam

Eine monumentale Installation aus Kunststoff empfängt die Besucher der Schirn Kunsthalle Frankfurt im Außenbereich: Ein verstörend schöner künstlicher Baum, dessen Krone unter anderem aus Kunststoffbehältern wie Schüsseln und Eimern geformt ist. L’arbre à palabres (Palaverbaum) nennt Pascale Marthine Tayou, ein in Belgien lebender Künstler aus dem Kamerun, sein Werk, mit dem er plakativ auf den üblichen massenhaften Gebrauch des günstigen Materials Kunststoff (nicht nur) in Afrika verweist. Zugleich und liefert er damit einen Kommentar über den Zustand unserer Ökosysteme.

Die Schirn widmet vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Kunststoff in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. „Plastic World“ versammelt rund 100 Werke von über 50 internationalen Künstlern, die auf unterschiedlichste Weise mit Kunststoff arbeiten. Die Ausstellung macht deutlich, wie sich der erfolgreiche vielseitige Werkstoff Kunststoff in seiner kurzen Geschichte vom Inbegriff für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums zu einer Bedrohung für die Umwelt wandelte.

Die Werke in der Schirn eröffnen das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit. Es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschaften. Objekte, Assemblagen, Installationen, Filme und Dokumentationen zeigen die Vielfalt der Stoffe, Formen und Materialien und spiegeln dabei auch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext.

Künstler nutzen die großen gestalterischen Möglichkeiten

Polyurethanschaum, der über den Boden läuft und ein Eigenleben entwickelt – dazu realisierte der französische Bildhauer César zum Beispiel Happenings. Zu den in freie Formen gegossenen sogenannten Expansions gehört dieses Werk „Expansion à la boite d’œufs“ (Expansion in den Eierkarton).
Polyurethanschaum, der über den Boden läuft und ein Eigenleben entwickelt – dazu realisierte der französische Bildhauer César zum Beispiel Happenings. Zu den in freie Formen gegossenen sogenannten Expansions gehört dieses Werk „Expansion à la boite d’œufs“ (Expansion in den Eierkarton).
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Kunststoff ist überall. Es durchdringt die Gegenwart, ist billig, nahezu weltweit verfügbar und im Alltag omnipräsent. Ob hart oder flexibel, transparent, opak, gemustert, glatt, zart oder bunt, aus Kunststoffen können heute beinahe alle Dinge hergestellt werden. In den 1950er-Jahren feierten sie ihren großen Durchbruch und wurden zum Symptom und Symbol der Massenkultur – das „Plastic Age“ war geboren. Und auch in die Kunst hielten Kunststoffe aufgrund ihrer immensen gestalterischen Möglichkeiten früh Einzug, sie wurden schnell zu einem zentralen Material und Vehikel der Innovation.

Auf der Suche nach dem Neuen wurde mit den jeweils aktuell verfügbaren Stoffen wie Plexiglas, Styropor, Silikon, Vinyl oder Polyurethan und industriellen Fertigungstechniken experimentiert. Dabei feierte die Pop Art im Konsumrausch der Zeit das neue künstliche und günstige Material in seiner bunten Brillanz und seinen leuchtenden Farben. Kunststoff wurde in fantastisch anmutenden Räumen und Environments genutzt oder bei Happenings aufgepumpt, geschäumt und gegossen. So realisierte der französische Bildhauer César zum Beispiel Happenings mit Polyurethanschaum, den er fassweise über den Boden laufen und ein Eigenleben entwickeln ließ. Zu den in freie Formen gegossenen sogenannten Expansions gehört sein Werk „Expansion à la boite d’œufs“ (Expansion in den Eierkarton).

Auch ökologische Dimension von Kunststoff im Blick

Der deutsche Künstler Otto Piene verband moderne Technik und Natur. In einem begehbaren Environment von rund 160 m2 präsentiert die Schirn eine Neuauflage von Anemones: An Air Aquarium (1976/2023). Zehn riesige, bis zu 8 m große, aufblasbare und durchsichtige Seeanemonen sowie andere Seewesen machen Unterwasserwelten erlebbar. Die zu ihrer Entstehungszeit poetische und spielerische Dimension der Arbeit wird heute durch das Wissen um die Verschmutzung der Meere durch (Mikro)plastik überlagert.
Der deutsche Künstler Otto Piene verband moderne Technik und Natur. In einem begehbaren Environment von rund 160 m2 präsentiert die Schirn eine Neuauflage von Anemones: An Air Aquarium (1976/2023). Zehn riesige, bis zu 8 m große, aufblasbare und durchsichtige Seeanemonen sowie andere Seewesen machen Unterwasserwelten erlebbar. Die zu ihrer Entstehungszeit poetische und spielerische Dimension der Arbeit wird heute durch das Wissen um die Verschmutzung der Meere durch (Mikro)plastik überlagert.

Die Faszination für Weltraumforschung, Mondlandung und High-Tech-Materialien beflügelte die bildende Kunst ebenso wie die Architektur zu luftigen Konstruktionen und progressiven Raumkonzepten. Gleichzeitig gab es neben den minimalistischen Arbeiten der Finish Fetish Artists schon Ende der 1960er-Jahre Akkumulationen von Trash, die die Exzesse des Massenkonsums und die ökologische Dimension von Kunststoff in den Blick nahmen. Diese Perspektive wird heute angesichts der enormen Verbreitung von Kunststoffen und der Belastung der Umwelt in künstlerischen Arbeiten vermehrt aufgegriffen.

„Mit ‚Plastic World‘ präsentiert die Schirn einen bislang einmaligen und längst überfälligen Überblick über die Verwendung synthetischer Stoffe in der bildenden Kunst. Schnell eroberte das vielseitige Material in Skulpturen und in der Architektur den dreidimensionalen, physischen Raum. Diese Geschichte des Plastikzeitalters zeugt von Innovationsfreude und Kreativität“, betont Dr. Sebastian Baden, Direktor der Schirn. „Aus ökologischer Perspektive entfaltet Plastik aktuell eine besondere Dringlichkeit, es ist bis heute allgegenwärtig in der Massenkultur. Unsere Ausstellung weist weit über rein ästhetische und formale Aspekte hinaus. Vielmehr lädt sie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser prägenden Materialkultur ein.“

Kunststoff ist ein emblematisches Material

Bereits in den 1960er-Jahren interessierten sich Künstler des Nouveau Réalisme weniger für das glatte, schöne Material als für das, was am Ende übrigbleibt. Christo enthüllte die Mechanismen der Konsumgesellschaft, indem er wie in der frühen Arbeit Look (um 1965) die Gewichtung zwischen Inhalt und Verpackung austauscht und letztere zum Hauptakteur seiner Kunst macht.
Bereits in den 1960er-Jahren interessierten sich Künstler des Nouveau Réalisme weniger für das glatte, schöne Material als für das, was am Ende übrigbleibt. Christo enthüllte die Mechanismen der Konsumgesellschaft, indem er wie in der frühen Arbeit Look (um 1965) die Gewichtung zwischen Inhalt und Verpackung austauscht und letztere zum Hauptakteur seiner Kunst macht.

„Plastik ist das emblematische Material unserer Gegenwart und hat in kürzester Zeit Kunst und Gesellschaft radikal verändert. Was sich inzwischen als enorme Belastung für die Umwelt herausgestellt hat, bedeutete für die Kunst, wie für Architektur und Design, eine ebensolche Bereicherung“, erläutert Dr. Martina Weinhart, die Kuratorin der Ausstellung. „Der Blick auf die überaus reiche Materialgeschichte von Plastik eröffnet eine Erzählung voller Ambivalenzen: von zukunchftsorientierter Innovationskraft und verführerisch anmutigen Objekten; von den schädlichen Auswirkungen, aber auch zur Frage nach neuen Wegen im Umgang mit diesem Material, das gekommen ist, um zu bleiben.“

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